Gedanken aus der Praxis

Gedanken aus der Praxis


Selbstwirksamkeitserwartung bei Pferden


Juni 22

Selbstwirksamkeitserwartung bei Pferden


Wie viel Selbstwirksamkeit bei Pferden halten wir überhaupt aus?

Selbstwirksamkeitserwartung ist ein Begriff aus der Psychologie und Pädagogik und umschreibt die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen durch eigene Kompetenzen bewältigen zu können.
Die Selbstwirksamkeitserwartung ist eng verknüpft mit einer psychischen Gesundheit, der Resilienz, dem Selbstvertrauen und dem Selbstwert. Ich unterstelle jetzt einfach mal, dass alle Tiere und demnach auch Pferde diese Eigenschaften haben und entwickeln können, wie auch wir Menschen.
Ein selbstwirksames Pferd ist demnach ein Pferd, das weiß, dass es mit seinem Verhalten eine Situation in die gewünschte Richtung beeinflussen kann. Es weiß, dass sein Handeln wirksam ist. Aber möchte ich überhaupt ein Pferd das Selbstwirksam ist? Ein selbstwirksames Pferd macht nicht immer das, was ich möchte! Es bringt seine eigenen Ideen ein und wenn es selbstbewusst ist, fordert es sie auch ein. Ich habe in dem Moment dann nicht mehr einen Befehlsempfänger, sondern einen Partner, mit dem ich in Verhandlung treten muss.

Achtung - Sicherheit geht vor:
Daher sollte mein Pferd mich aus Sicherheitsgründen in einer Krisensituation auch als souveräne Leitung anerkennen, ehe ich daran arbeite, seine Selbstwirksamkeit zu steigern. Das liegt daran, dass wir zumindest hier in Deutschland mit einem Pferd in einer für den Menschen gemachten Welt umgehen. Im Zweifelsfall muss ich als Mensch (der z.B. die Verkehrsregeln kennt) die Entscheidungen, die im Verkehr stattfinden, treffen und vom Pferd eine Mitarbeit einfordern können.

5 Möglichkeiten die Selbstwirksamkeitserwartung des Pferdes zu stärken:

1. Mein Pferd darf die Richtung entscheiden.
Vielleicht sogar die ganze Strecke des Ausrittes. Meine Fjordstute Kjesta liebt es z.B. in die Stadt zu reiten und nicht in den Wald. Wenn ich ihr die Streckenführung überlasse, landen wir oft in einem Stadtteil von Karlsruhe.

2. Mein Pferd darf entscheiden, ob Reitplatz oder Ausritt.
Fuego liebt die Aufgaben auf dem Reitplatz, die wir gerade neu üben und wo es für kleine Erfolge viele Leckerlies gibt. Wenn es eher um Kondition oder Ausdauer geht, schlägt er mir vor, doch lieber auszureiten, indem er zu Tür geht. Auch in Ordnung, denn Kondition und Ausdauer können wir auch im Gelände üben. Eigentlich ist sein Vorschlag sogar richtig gut und ich wäre in dem Moment oft selbst nicht darauf gekommen.

3. Mein Pferde dürfen entscheiden, ob Koppel oder Offenstall
Meine Pferde entscheiden sich oft nicht für das, was ich gedacht habe.
Unsere Pferdeherde steht im Paddock an der Tür zur Weide, wenn sie hinaus ins Grüne wollen. Sie stehen auf der Weide am Gatter, wenn sie lieber zurück in den kühlen und mückenfreien Stall möchten. Warum ihnen ihren Wunsch nicht erfüllen? Diese Methode braucht viel Zeit und Koordination, aber ich habe sehr tolle Partner, die Spaß an der Zusammenarbeit haben.
Schöner wäre natürlich ein Offenstall mit direkt angeschlossener Weide, aber den haben wir eben nicht. Und zu viel Weide für dicke Ponys ist ja auch nicht so ohne, deshalb lasse ich sie nicht immer auf die volle Weide, wenn sie mir ihren Wunsch kundtun. (Ihr merkt, hier kollidiert meine Förderung der Selbstwirksamkeit mit meinen Kenntnissen über Pferdehaltung.)

4. Das Pferd darf das Tempo bestimmen.
Meine Pferde dürfen ihre Wünsche und Vorstellungen zum Tempo äußern. Sie dürfen mit ein bisschen Tänzeln (soviel wie ein Norweger eben tänzelt, bei einem Araber würde ich sicherlich ein anderes „Kennwort“ vereinbaren), wenn sie schneller Laufen wollen, und sie dürfen aus der Gangart ausfallen, wenn sie genug haben oder außer Puste sind.

5. Meine Pferde dürfen an Pferdehaufen riechen.
Für Pferde sind die Informationen, die sie dabei bekommen, immens wichtig, um sich ein gutes Urteil über ihre Umgebung und die sie umgebenden Pferde bilden zu können. So können sie bessere Entscheidungen treffen.

Geschichte aus der Praxis

Meine inzwischen verstorbene Therapiestute Frekkja hat mir etwas wunderbares beigebracht. Wir hatten eine Therapiestunde mit einem kleinen behinderten Mädchen. Jede Woche 20 Minuten im Schritt mit dem Ziel der körperlichen Förderung über die Bewegungsübertragung. Als junge Reittherapeutin hatte ich darauf geachtet, dass Frekkja immer gut, gleichmäßig und gleich schnell läuft, so dass die Bewegungsübertragung optimal genutzt ist. Manchmal ist Frekkja stehen geblieben. Ich habe sie dann immer aufgefordert weiterzugehen. Nach einem Selbsterfahrungskurs nach dem pferdegestützten Erfahrungslernen von Linda Kohanov war ich mutig genug, ihr einmal den Raum zu geben und zu schauen, was passiert, wenn ich sie entscheiden lasse.
Frekkja blieb stehen. Ich ließ es zu. Ich schaue ein wenig hilflos die Eltern des Mädchens an und erklärte, ich würde nur mal ausprobieren, was Frekkja mit ihrem Stehenbleiben vor hatte. Also warteten wir. Deutlich länger als es mir angenehm gewesen wäre. Und noch ein bisschen. Und dann sah ich, wie das Mädchen sich körperlich entspannt. Frekkja schnaubte in dem Moment aus und ging von selbst vorsichtig weiter.
Seitdem habe ich immer wieder auf sie gehört. Und sie hat das wunderbar gemacht. Viel besser als ich es je hätte entscheiden können. Das Pferd ist im direkten Kontakt mit dem Muskeltonus des Reiters. Und Frekkja als erfahrenes Therapiepferd wusste genau, wie sie ihre kleine Reiterin optimal fördern konnte.

Können das auch meine anderen Pferde?

a) Probleme bei selbstbewussten und eigenständigen Pferden

Ich habe das dann gleich mit Kjesta, meinem Nachwuchstherapiepferd ausprobiert. Damals klappte es nicht. Kjesta freute sich sehr, dass sie mitbestimmen durfte. Aber sie nutzte diese Freiheiten nur für ihre Belange, für eine kurze Pause oder einen kleinen Snack, und nicht zur Förderung unserer Klienten. Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich ihr klar machen konnte, dass diese Freiheit nicht Freimachen bedeutete, sondern Raum für eigenverantwortliche Entscheidungen zum Wohle unserer Klientin bieten sollte. Inzwischen ist auch Kjesta ein alter Hase und kann sehr fein und selbstständig mit ihren Klienten arbeiten. Bei ihr war es wichtig, den Fokus von ihren eigenständigen Entscheidungen immer wieder auf die gemeinsame Aufgabe mit den Klienten zu lenken.

b) Probleme bei unsicheren Pferden

Auch mein nächstes Nachwuchspferd Fuego war anfangs mit dieser Freiheit überfordert. Er wurde bei soviel Freiraum unsicher. Er ist ein Pferd, das es mir immer recht machen wollte. Anfangs wusste er ohne klare Kommandos nicht, was er tun sollte, um es mir recht zu machen. Sollte er jetzt laufen oder stehen bleiben? Er wartete auf mein Kommando und war eher verstört, wenn es nicht kam. Es dauerte ein paar Jahre, bis er verstand, dass es bei den behinderten Kindern der Muskeltonus ist, auf den er selbstständig achten soll. Für ihn war es eine große Erkenntnis, dass er dies besser spüren kann als ich, ich hier auf seine Rückmeldung angewiesen bin und nicht er auf mein Kommando. Für ihn war es ein völlig neuer Gedanke, dass er in der Menschenwelt etwas besser wissen könnte als sein Mensch. Um das zu erreichen, habe ich bei ihm jede eigenständige Entscheidung gelobt und ihm dem Freiraum gegeben, sich auszuprobieren.

So habe ich jetzt zwei tolle Pferdekollegen und wir können unseren Klienten viel mehr anbieten, als ich es alleine könnte.




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